Marketing in der Sinn-Krise? Warum Spießig das neue Cool ist, gerade wenn's kriselt

Zuletzt aktualisiert: 22. Oktober 2025
Ein aus Käse geformter Igel, dessen Rücken aus kleinen Spießen mit Käsewürfeln, Weintrauben und Wurststücken besteht, dekoriert mit Kräutern auf einem Teller.

Oktoberregen, Pantoffeln am Fuß, Weinabend mit Käseigel: Was sehr lange als „uncool“ oder „spießig“ galt, feiert ein Comeback – und das völlig ironiefrei. Die Binse vorweg: Während die Welt unsicherer wird, steigt das Bedürfnis nach Sicherheit, Planbarkeit und Bodenhaftung.

Marken, die das ignorieren, könnten schnell aus der Zeit fallen. Marken, die es klug aufgreifen, wirken plötzlich relevanter denn je. Wir zeigen, wie.

Kein Klamauk: Vom Pizza-Karton zum Bausparvertrag

Dazu ein typisches Praxisbeispiel: Die neue LBS-Bausparkampagne hat für Aufmerksamkeit gesorgt – weil sie genau diesen Nerv trifft. Statt sich krampfhaft zu verjüngen, fühlt sich die Zielgruppe abgeholt: Millennials mit wenig Eigentum, aber großem Bedürfnis nach Verlässlichkeit. Eine Generation, die Glasuntersetzer wiederentdeckt und sich insgeheim wünscht, dass die Party auch mal ausfällt. Die Zeiten sind ja hektisch genug.

Der kommunikative Clou: Die LBS inszeniert Bausparen nicht als nostalgisches Boomer-Relikt, sondern als erwachsenes, strukturstarkes Statement. Mit Creator:innen, Podcasts, Social Ads und sogar gebrandeten Pizzakartons trifft sie ihre Zielgruppe dort, wo das echte Leben passiert – und macht aus einem bislang oft belächelten Vorgang, dem Bausparen, ein kulturell anschlussfähiges Angebot mit finanzieller Finesse.

Psychologie-Spin: Der Wunsch nach Kontrolle

Die Rückkehr zur Spießigkeit ist nicht einfach ein Trend – sie ist Ausdruck eines typischen psychologischen Mechanismus. Studien zur sogenannten Need for Cognitive Closure (Kruglanski et al.) zeigen: In Zeiten von Unsicherheit steigt unser Bedürfnis nach klaren Regeln, Ordnung und Stabilität. Marken, die diesen Wunsch erfüllen – durch Haltung, Verlässlichkeit oder konkrete Lebenshilfe – wirken stabilisierend.

Oder wie der Soziologe Andreas Reckwitz sagt:

„Der neue Mittelstand definiert sich nicht mehr über Statussymbole, sondern über Selbstkontrolle und Ordnung im Leben.“

Mehr als Bausparen – was andere Branchen daraus lernen können

  • Fashion: Der etablierte Chic ist normcore. Weg vom lauten Statement, hin zu stillen Klassikern. Marken wie ARKET oder COS setzen auf Dauer statt Drama – mit Erfolg. Wer hier Authentizität vermittelt statt Attitüde, gewinnt. Beispiel: Auch Levi’s rückt wieder den klassischen 501-Cut ins Zentrum – traditionsbewusst, aber modern gestylt.
  • Media & Entertainment: Retro-Formate, Kochshows, Familienserien – Inhalte mit emotionaler Geborgenheit boomen. Streaminganbieter experimentieren längst mit Formaten, die sich wie „zu Hause“ anfühlen. Beispiel: Disney+ punktet mit Formaten wie „The Santa Clauses“, die gezielt familiäre Rituale und Heimeligkeit bedienen – inklusive Glöckchen, Pullover und Zuckerstangen.
  • Food: Auch im Supermarkt zeigt sich der Spießigkeitstrend: Traditionsmarken erleben ein Revival, ebenso wie Produkte mit „Hausgemacht“-Charakter. Tiefkühl-Klassiker wie Rahmspinat oder Gulasch feiern ein Comeback – oft modern interpretiert, aber mit vertrautem Bauchgefühl. Beispiel: Iglo inszeniert klassische Gerichte wie Königsberger Klopse neu – mit Storytelling rund um Familie, Alltag und Herkunft.

Fazit: Spießig ist das neue Souverän

Marken müssen heute nicht hip sein, sondern resonant. Wer den neuen Sicherheitskodex versteht, kann selbst althergebrachte Produkte glaubwürdig in die Gegenwart übersetzen. Es geht nicht um ironisches Augenzwinkern – sondern um ein klares, glaubwürdiges Angebot für ein echtes Bedürfnis. Wer auf Werte wie Verlässlichkeit, Zugehörigkeit und Alltagsrelevanz setzt, trifft den Nerv der Zeit – und gewinnt an Tiefe statt nur an Lautstärke.

FAQ: Wie GIM hilft, Marken in Krisenzeiten neu und klar zu positionieren

Was bedeutet der „Spießigkeits-Shift“ für Markendesign und Kampagnen?

Marken müssen Sicherheit und Bodenhaftung ausstrahlen – ohne altbacken zu wirken. Wir analysieren, welche Sprache, Tonalität und Visualität dazu passen.

Wie erforscht GIM solche kulturellen Wendepunkte?

Etwa mit Cultural Insights, Social Listening, psychografischer Segmentierung und User Journeys. Unsere Forschung zeigt, was Zielgruppen wirklich bewegt – und wie sich das übersetzen lässt.

Gilt das nur für junge Zielgruppen?

Nein. Gerade bei Millennials und der Gen X treffen sich Stabilitätssehnsucht und Konsumverhalten. Wir helfen, diese Schnittstellen sichtbar und strategisch nutzbar zu machen.

Und wenn meine Marke bisher eher laut und rebellisch war?

Dann empfiehlt sich je nach Positionierungsziel ein sensitives Reframing: Es geht nicht um Selbstverleugnung, sondern um Anschlussfähigkeit. Spießigkeit ist nicht das Gegenteil von Cool – sondern das neue Selbstbewusstsein im Chaos.

Neugierig, wie sich Ihre Marke neu aufstellen kann?

Dann kontaktieren Sie uns. GIM hilft, relevante Trends zu erkennen – und Haltung in substanzielle Resonanz zu übersetzen.

Brigitte Bayer

Senior Research Director

Dr. Jörg Munkes

Managing Director

Heidelberg

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